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Das biopsychosoziale Modell in der Physiotherapie: Zusammenspiel mit Outcome Measures

Aktualisiert: 19. Sept.

Ein Beitrag der Fachgruppe Muskuloskelletal des Physiozentrums.


Einleitung

Die Physiotherapie hat sich über einen rein biomedizinischen Ansatz hinaus weiterentwickelt und ein ganzheitlicheres Verständnis der Patientenversorgung durch das biopsychosoziale (BPS) Modell angenommen. Das 1977 von George Engel eingeführte BPS-Modell integriert biologische, psychologische und soziale Faktoren in die Gesundheitsversorgung und betont die Komplexität des menschlichen Funktionierens (Engel, 1977). Dieses Modell hat insbesondere in der Physiotherapie an Bedeutung gewonnen, wo Therapieerfolge sowohl von der physiologischen Heilung als auch vom mentalen und sozialen Kontext des Patienten abhängen. Der Einsatz von Outcome Measures – standardisierten Instrumenten zur Bewertung des Patientenfortschritts – muss diesem multidimensionalen Ansatz gerecht werden.


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Das BPS-Modell in der Physiotherapie

Historisch konzentrierte sich die Physiotherapie auf biomechanische Beeinträchtigungen – Muskelkraft, Gelenkbeweglichkeit und strukturelle Anomalien. Die Forschung zeigt jedoch zunehmend, dass chronische Schmerzen, Behinderungen und Genesung wesentlich durch psychologische (z.B. Angstvermeidung, Depression) und soziale (z.B. Arbeitsstatus, Unterstützungssysteme) Variablen beeinflusst werden (Kamper et al., 2015). Das BPS-Modell ermöglicht es Therapeutinnen, diese Variablen zu berücksichtigen und individuelle Behandlungspläne zu erstellen, die nicht nur die Gewebeheilung, sondern auch Überzeugungen, Verhaltensweisen und das Umfeld des Patienten einbeziehen.


Zum Beispiel können zwei Patienten mit ähnlichen Lendenwirbelsäulenverletzungen unterschiedlich auf dieselbe Behandlung reagieren, wenn sie sich hinsichtlich ihrer Schmerzkatastrophisierung oder beruflichen Anforderungen unterscheiden. Das Ignorieren dieser Faktoren birgt das Risiko suboptimaler Ergebnisse oder einer verlängerten Behinderung. Daher ist das BPS-Modell ein zentraler Bestandteil der modernen physiotherapeutischen Ausbildung und Praxisrichtlinien geworden, insbesondere im Umgang mit chronischen muskuloskelettalen Beschwerden (O’Sullivan, 2012).


Outcome Measures: Traditionell und BPS-orientiert

Outcome Measures erfüllen mehrere Funktionen: Sie bewerten die Wirksamkeit einer Behandlung, leiten klinische Entscheidungen und schaffen Rechenschaft. Traditionelle Messinstrumente wie Goniometrie, manuelle Muskeltests und Schmerzskalen (z.B. visuelle Analogskala) erfassen hauptsächlich biologische Aspekte. Sie spiegeln jedoch möglicherweise nicht die vollständigen Auswirkungen der Therapie auf die Funktion oder Lebensqualität einer Patientin wider.


Mit dem Aufstieg des BPS-Modells wurden Outcome Measures um Instrumente erweitert, die psychologische und soziale Dimensionen erfassen. Zum Beispiel:


  • Der Fragebogen zu Angst-Vermeidungsüberzeugungen (FABQ) bewertet, wie die Angst vor Schmerzen die körperliche Aktivität beeinflusst.

  • Die Schmerzkatastrophisierungsskala (PCS) erfasst eine übertrieben negative Haltung gegenüber Schmerzen.

  • Der Oswestry Disability Index (ODI) oder die Patient-Specific Functional Scale (PSFS) berücksichtigen sowohl körperliche Funktion als auch wahrgenommene Einschränkungen.

  • Der WHO Disability Assessment Schedule (WHODAS 2.0) umfasst umfassende Bereiche wie Teilhabe und gesellschaftliches Engagement.


Diese Instrumente stehen im Einklang mit dem BPS-Modell, da sie psychologische und soziale Konstrukte quantifizieren, die die körperliche Genesung beeinflussen, und so gezieltere Interventionen ermöglichen.


Zusammenspiel und klinische Implikationen

Das BPS-Modell und Outcome Measures sind keine isolierten Konzepte – sie interagieren dynamisch in der klinischen Praxis. Durch den Einsatz BPS-orientierter Outcome Measures können Physiotherapeuten nicht-biomedizinische Ursachen von Funktionsstörungen besser erkennen. Wenn beispielsweise eine Patientin hohe FABQ-Werte aufweist, könnte der Therapeut Bildung, kognitive Verhaltenstechniken und graduelle Belastung gegenüber rein manueller Therapie oder Übungen priorisieren.


Darüber hinaus ermöglichen Outcome Measures die Verfolgung von Veränderungen in allen BPS-Dimensionen. Wenn sich psychologische Ergebnisse verbessern (z.B. reduzierte Angstvermeidung), kann dies die körperliche Genesung begünstigen und ihr vorausgehen. Umgekehrt kann bei rein körperlichen Fortschritten ohne psychologische Verbesserungen das Rückfallrisiko oder die Gefahr eines Therapieabbruchs hoch bleiben.


Dieses Zusammenspiel unterstützt zudem die gemeinsame Entscheidungsfindung und eine patientenzentrierte Versorgung. Wenn Patienten erkennen, dass ihre sozialen oder psychischen Anliegen berücksichtigt werden, fördert das das Engagement, das therapeutische Bündnis und letztlich bessere Behandlungsergebnisse (Hall et al., 2010).


Herausforderungen und Überlegungen

Trotz des vielversprechenden Potenzials BPS-basierter Outcome Measures bestehen weiterhin Herausforderungen. Zeitmangel, Vergütungsmodelle und mangelnde Schulung können ihre routinemässige Anwendung erschweren. Darüber hinaus erfordert die Interpretation psychosozialer Messwerte kulturelle Sensibilität und klinisches Urteilsvermögen. In diesem Zusammenhang können offene Fragen, motivierende Gesprächsführung und sorgfältige Dokumentation eine wichtige Rolle spielen, um Behandlungsmassnahmen zu begründen und die Therapie fortzusetzen.


Das biopsychosoziale Modell hat die Physiotherapie grundlegend verändert, indem es deren Fokus auf das gesamte Spektrum genesungsrelevanter Faktoren erweitert hat. Outcome Measures, die auf dem BPS-Modell basieren, verstärken diesen Wandel, indem sie aussagekräftige Daten über biologische, psychologische und soziale Bereiche erfassen. Ihre Anwendung steigert nicht nur die Wirksamkeit und Präzision der Behandlung, sondern unterstützt auch einen empathischeren, individualisierten Versorgungsansatz. Zukünftige Entwicklungen sollten darauf abzielen, diese Instrumente nahtlos in die Praxis zu integrieren und sicherzustellen, dass Therapeutinnen in der Lage sind, sie kompetent zu interpretieren und anzuwenden.



Literaturverzeichnis

  • Engel, G. L. (1977). The need for a new medical model: A challenge for biomedicine. Science, 196(4286), 129–136.

  • Kamper, S. J., Apeldoorn, A. T., Chiarotto, A., Smeets, R. J., Ostelo, R. W., Guzman, J., & van Tulder, M. W. (2015). Multidisciplinary biopsychosocial rehabilitation for chronic low back pain. Cochrane Database of Systematic Reviews, (9), CD000963.

  • O'Sullivan, P. (2012). It's time for change with the management of non-specific chronic low back pain. British Journal of Sports Medicine, 46(4), 224–227.

  • Hall, A. M., Ferreira, P. H., Maher, C. G., Latimer, J., & Ferreira, M. L. (2010). The influence of the therapist-patient relationship on treatment outcome in physical rehabilitation: A systematic review. Physical Therapy, 90(8), 1099–1110.



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